Wer will noch diesen Fußball?
Vorbemerkung
Obwohl dem Sport immer wieder eine Völker verbindende und damit im weitesten Sinne auch eine politische Funktion nachgesagt wird, habe ich ihn bisher aus den auf diesen Seiten dargestellten Themen herausgehalten. Mit den neuesten Entwickungen um die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Qatar mit einem vorläufigen sehr traurigen Höhepunkt am 21. November 2022 ist mir dies leider nicht mehr möglich. Mit ihnen ist für mich das Maß der Skandale übergelaufen.
Wer will noch diese WM?
Update vom 22. November 2022: Auch nach dem Upload dieses Artikels gingen die Diskussionen um das Verbot der „One-love“-Binde – selbstverständlich – weiter. Kritisiert wurde nicht nur das Verbot selbst, sondern auch der Zeitpunkt seiner Bekanntmachung (zur Erinnerung: diese erfolgte zwei Stunden (!) vor Anpfiff des Spiels der an der Aktion beteiligten Mannschaft Englands gegen den Iran). Teams und Trainer seien am Spieltag auf die Spielvorbereitung fokussiert gewesen und hätten daher auf diese kurzfristige Ankündigung der FIFA nicht mehr adäquat reagieren können, monierte etwa DFB-Geschäftsführer Oliver Bierhoff. Auch die Kapitäne der ebenfalls von dem Verbot betroffenen Teams Englands und der Niederlande, Kane und van Dijk, reagierten wütend und verständnislos. Aus der Politik kam ebenfalls weitere Kritik, so von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, ihrer Kollegin aus dem Innenressort, Nancy Faeser, und der Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Renata Alt. Und auch wenn DFB-Präsident Bernd Neuendorf ein „Einknicken“ der Verbände gegenüber der FIFA bestreitet, muss zusätzlich zu der bereits in dem Artikel zitierten Äußerung des ehemaligen WM-Schiedsrichter Markus Merk auch noch auf die „Meinung“ von Andreas Bachmann vom Bayerischen Rundfunk hingewiesen werden, die in den „tagesthemen“ vom 21.11.2022 ausgestrahlt wurde (das Video ist noch bis zum 30.06.2023, 23.59 Uhr, verfügbar). Ich verlinke diesen Beitrag, weil ich mich voll und ganz mit ihm identifizieren kann.
Kurz vor dem geplanten Upload dieses Updates erfahre ich von einem Vorfall mit einem aus Qatar berichtenden dänischen Journalisten. Dieser wurde offenbar von qatarischen Polizisten bedrängt, weil er eine „One-love“-Binde trug. Dies nährt die bereits gestern von einigen Korrespondenten geäußerte Vermutung, das Verbot dieser Binde durch die FIFA sei auf Drängen des Gastgeberlandes erfolgt. Sollte dies zutreffen, würde das in meinen Augen ein noch übleres Licht auf diesen Verband und seinen Präsidenten werfen (bereits nach der im Artikel erwähnten Pressekonferenz vom 19.11.2022 war gemutmaßt worden, dass jedenfalls einige Passagen seiner Ausführungen von den Qataris diktiert worden sein könnten).
Gestern, am 20. November 2022, hat die 22. Fußball-Weltmeisterschaft der Geschichte in dem Wüstenstaat Qatar begonnen – in einem Land ohne jegliche Fußballtradition. Bereits deren Vergabe im Jahr 2010 löste Befremden aus, war doch von vornnherein klar, dass eine Austragung in den traditionell für eine Fußball-WM reservierten Sommermonaten dort nicht möglich sein würde. Und obwohl immer mehr Skandale rund um die Vergabe ans Licht kamen und auch bald klar wurde, dass in Qatar nicht nur die Menschenrechtslage mindestens problematisch ist, sondern auch der Aufbau der Stadien und der für die Durchführung des Turniers notwendigen Infrastruktur fast ausschließlich durch meist aus Nepal stammende Gastarbeiter erfolgte, dieunter sklavenähnlichen Bedingungen beschäftigt wurden und von denen viele (die Schätzungen gehen bis in die Tausende) ihren Arbeitseinsatz nicht überlebten, hielt der Weltfußballverband FIFA bis zum bitteren Ende an der Austragung dieser Weltmeisterschaft in diesem Land fest. (Einen Überblick über diese Vorgänge finden Sie auf sportschau.de, eine vierteilige Dokumentation hierzu in der ARD-Mediathek [verfügbar bis zum 06.10.2024].)
Die FIFA versprach eine WM ohne Einschränkungen – für die Fans, aber auch für Journalisten. Sorgen gab es vor allem bei Angehörigen der LGBTQ-Community (Homosexualität ist in Qatar gesetzlich verboten), aber auch hinsichtlich der Gewährleistung einer freien, ungehinderten Berichterstattung rund um die WM. Dass letztere nicht gegeben ist, hat sich bereits herausgestellt. Und obwohl Bundesinnenministerin Nancy Faeser von ihrem Besuch in Qatar Anfang November 2022 eine „Sicherheitsgarantie“ der dortigen Regierung für Angehörige der LGBTQ-Community mitbrachte, gab es auch nach ihrer Rückkehr immer wieder Warnungen, sich in der Öffentlichkeit mindestens „vorsichtigc zu verhalten. Wenige Tage vor der Eröffnung kassierten die qatarischen Behörden dann eine weitere Zusage ein: anders als seit dem Herbst letzten Jahres angekündigt wurde der Ausschank von Bier im Umfeld der Stadien nun doch verboten (hierbei handelte es sich immerhin um eine mit der FIFA getroffene Vereinbarung).
Am Vorabend der Eröffnungsfeier, dem 19. November 2022, folgte dann der bizarre Auftritt des Gianni Infantino. Dass er darin auch noch verschiedenste Identitäten annehmen wollte, forderte letztlich auch meinen Widerspruch heraus (dieses Schreiben ist am 21.11.2022 aufgegeben worden). Und genau an diesem Tag der nächste Paukenschlag, den ich zum Anlass für diesen Artikel (und das Aufsetzen dieser Seite in diesem Internet-Auftritt) genommen habe: Die Fußballverbände von Deutschland, der Schweiz, England, den Niederlanden, Wales, Dänemark und Belgien hatten nach Informationen der „tagesschau„ bereits am 19. September 2022 angekündigt, bei den WM-Spielen mit einer „One-love“-Kapitänsbinde auflaufen zu wollen, um ihre Weltoffenheit und ihre Unterstützung für die Belange und gegen die Unterdrückung der LGBTQ-Community auch in Qatar zu bekunden. Sie waren bereit, hierfür Geldstrafen in Kauf zu nehmen. So hatte es noch am Abend des 20. November geheißen, der deutsche Mannschaftskapitän Manuel Neuer werde zum ersten Spiel der DFB-Elf am Mittwoch (23. November 2022) mit dieser Binde auflaufen. Dann, einen Tag später und zwei Stunden (!) vor dem Anpfiff des Spiels England gegen den Iran, platzte die Bombe: Die beteiligten Verbände erklärten, nun doch nicht mit dieser Binde aufzulaufen – nachdem die FIFA hierfür offenbar sportliche Strafen angedroht hatte: von gelben Karten für die Träger bis hin zu Punktabzügen für die Mannschaften!
Die FIFA begründet diese Maßnahme mit ihren Regularien, denen die Verbände vor Beginn der WM zugestimmt hätten. Formal dürfte hiergegen wenig einzuwenden sein; allerdings könnte man trotz der angedeuteten Alternativen argumentieren, dass diese drastische Maßnahme im Widerspruch zu der von ihr selbst aufgesetzten Toleranz-Kampagne zu dieser Weltmeisterschaft steht (ich habe am 21.11.2022, 16.42 Uhr, noch einmal auf den „aktualisieren“-Button zu diesem Link geklickt; zu diesem Zeitpunkt [also mehrere Stunden nach der hier dargestellten Strafankündigung der FIFA] stand dort zu lesen: „Die FIFA ist eine inklusive Organisation und unterstützt alle legitimen Anliegen, wie beispielsweise 'One Love'. Nach diesbezüglichen Diskussionen bestätigt die FIFA, dass ihre Kampagne "No Discrimination - Keine Diskriminierung" nicht wie geplant erst mit der Viertelfinalrunde beginnt. Somit können die Kapitäne aller 32 Teams diese Armbinde während der gesamten FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022™ tragen.“).
Die Reaktionen sind harsch – sowohl die offiziellen wie auch die in den sozialen Medien. So stieß ich bereits kurz nach Beginn meiner Quellen-Recherche gegen 12.45 Uhr auf die folgende Twitter-Nachricht: „So, liebes #DFBTeam, wenn ihr noch einen allerletzten Funken Anstand und Rückgrat habt, dann setzt Ihr euch bitte jetzt sofort in den Flieger! Alles andere wäre absolut indiskutabel #OneLove #WMderSchande“. Und ein anderer User twittert: „Schade, dass sich Manuel Neuer nicht mit dem frisch als schwul geouteten Präsidenten solidarisch zeigen will #onelove“. Weitere Reaktionen reichen von „erbärmlich“ bis „skandalös“, auch von „Erpressung“ ist die Rede. Und die ARD-Korrespondentin Lea Wagner äußerte in der 12.00 Uhr-Tagesschau vom 21.11.2022 sogar die Vermutung, Gianni Infantino wolle sich mit dieser Aktion schlicht für die Ankündigung des europäischen Kontinentalverbands rächen, ihn bei der im kommenden Jahr anstehenden Neuwahl des FIFA-Präsidenten (bei der er der einzige Kandidat sein wird) nicht mehr zu unterstützen.
Meine Meinung: Was für ein mieses Spiel! Ist diese WM nicht schon skandalträchtig genug? Hat es die FIFA wirklich nötig, die Regeln (und damit auch die Inhalte) ihrer eigenen Toleranz-Kampagne zu dieser WM (s.o.) infrage zu stellen? Und: Verhalten sich die betroffenen Verbände richtig, wenn sie jetzt einknicken? Immerhin repräsentieren sie ein knappes Viertel der Teilnehmer an dieser Weltmeisterschaft. Hätten Sie nicht Rückgrat zeigen können, ja sogar sollen, und sich dieser Erpressung entgegenstellen sollen? Immerhin wird der Hamburger Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich mit den Worten zitiert: „Ich suche nach der Regelgrundlage für die Entscheidung seitens der FIFA, das Tragen der OL Binde mit Gelb zu sanktionieren… Ich finde sie nicht. Alle werden instrumentalisiert. Traurig und unfassbar! Auch hier nur indirekt ohne Grundlage für Gelb, oje!“ Und der frühere WM-Schiedsrichter Markus Merk beklagt, der DFB und die anderen Verbände hätten mit dem Verzicht auf die Binde „eine Riesenchance vergeben“: Der „gewünschte Glanz des Turniers wäre bei solidarischem Handeln der großen und für eine WM so wichtigen Verbände weiter verblasst. Auch wenn ich für den Sport im Vordergrund bin: Es wurde (wieder) eine historische Chance verpasst.“
Ich finde, dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass es hier an den Spielern gewesen wäre, Rückgrat zu zeigen und trotz der Entscheidung der Verbände mit der One-Love-Binde aufzulaufen. Damit wären sie vermutlich ein weit geringeres Risiko eingegangen als die Spieler der iranischen Nationalmannschaft. Die haben nämlich an diesem ereignisreichen Tag vor dem Spiel gegen England beim Abspielen ihrer Nationalhymne geschwiegen – aus Protest gegen die in ihrem Land derzeit herrschenden Verhältnisse und ohne Rücksicht auf die ihnen nach ihrer Rückkehr möglicherweise drohenden Folgen.
Zusatz vom 22.11.2022: In meinem weiter oben erwähnten Schreiben („Widerspruch“) an Gianni Infantino hatte ich angekündigt, während dieser WM allenfalls die Spiele der deutschen Nationalmannschaft verfolgen zu wollen. Nach der Reaktion der deutschen Mannschaftsführung auf die in diesem Artikel geschilderten Vorgänge, bestärkt durch die Vielzahl der hier angeführten kritischen Stimmen hierzu, habe ich nunmehr beschlossen, diese Fußball-Weltmeisterschaft als erste seit 1966 komplett an mir vorübergehen zu lassen. Dem DFB werde ich in einem Schreiben meine Kritik an seiner Reaktion verdeutlichen und zudem deutlich machen, dass ich bis auf Weiteres keine Spiele der DFB-Elf mehr verfolgen werde.
zurück zur Übersicht