Petitionen als Spiegelbild der Gesellschaft?
Was geschieht in unserer Gesellschaft?
Petitionen sind in einer so genannten „repräsentativen Demokratie“ wie der der Bundesrepublik Deutschland, in der der Wille des Volkes gemäß dem Grundgesetz durch die von ihm gewählten Abgeordneten ausgedrückt (eben „repräsentiert“) wird – jedenfalls soweit es die Gesetzgebung betrifft – eine wichtige Funktion: Sie ermöglichen es den Bürgerinnen und Bürgern, ihre Anliegen den verantwortlichen Politikern vorzutragen. In den Parlamenten – also dort, wo die gewählten Abgeordneten ihre Arbeit verrichten – gibt es spezielle Ausschüsse, die sich mit diesen Anliegen befassen und darüber entscheiden müssen, ob sie so wichtig sind, dass alle Abgeordneten des Parlaments (das „Plenum“) sich damit befassen und darüber entscheiden soll. Naturgemäß wird dies in der Regel nur dann der Fall sein, wenn das Anliegen eine größere Anzahl von Menschen betrifft und/oder für die gesamte Gesellschaft und deren Zukunft oder Entwicklung von Bedeutung ist.
In Zeiten des Internets können beim Deutschen Bundestag solche Petitionen auch online eingebracht und ebenso diskutiert werden. Dafür gibt es dort eine eigene Webseite. Das zu dieser gehörende Forum besuche ich recht häufig; zum einen, um Menschen mit Behinderung auf sie in besonderer Weise betreffende Petitionen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch um zu sehen, was die Menschen in Deutschland beschäftigt. Wie Sie weiter unten nachlesen können, treffe ich dabei nicht selten auf Petitionen, die bei mir Reaktionen von reinem Kopfschütteln über großes Unverständnis bis hin zu Besorgnis auslösen, wie viele Menschen es geben mag, die mit unserem Grundgesetz und damit unserer Gesellschaftsordnung so unzufrieden sind, dass sie anscheinend bereit sind, unsere bewährte staatliche Ordnung nicht nur bloß in Frage, sondern gleich möglichst auf den Kopf zu stellen. Auch in den Diskussionen zu manchen Themen muss man sich mitunter mit Argumenten auseinandersetzen, die (noch harmlos) vor „Fake News“ nur so strotzen oder (nicht mehr spaßig) Ansichten wiedergeben, die mehr oder weniger offen darlegen, dass eine andere Gesellschaftsordnung angestrebt wird oder die menschenfeindlich oder extrem unsolidarisch daherkommen. Dies lässt in mir die Frage aufkommen, ob diese Anliegen und Meinungen ein Spiegelbild unserer bundesdeutschen Gesellschaft darstellen. Da wechseln sich durchaus ernsthafte Besorgnisse und Anliegen mit solchen ab, von denen man kaum glauben kann, dass sie ernst gemeint sein könnten – dennoch können auch solche Petitionen erstaunlich (eigentlich besser: erschreckend) hohe Zahlen an Mitzeichnern auf sich vereinigen. In einigen Fällen geschieht das sogar, wenn durch Diskussionsbeiträge deutlich gemacht wird, dass das geschilderte Problem gar nicht besteht oder der beschriebene negative Effekt einer Regelung bei näherem Hinsehen gar nicht willkürlich herbeigeführt ist, sondern aufgrund einer durchaus sinnvollen und im Grunde wünschenswerten Regelung besteht.
Um dies zu illustrieren, führe ich nachstehend eine kleine, keinesfalls repräsentative Auswahl von Petitionen auf, die mir wegen der einen oder anderen Eigenheit besonders aufgefallen sind. Beginnen möchte ich mit dem positiven Beispiel einer – jedenfalls aus meiner Sicht – durchaus sinnvollen, die allerdings den „Schönheitsfehler“ hatte, dass der Petent offenbar die wahre Reichweite bzw. Bedeutung seines Anliegens bzw. des von ihm beschriebenen Problems anscheinend gar nicht erkannt hatte:
Ist unser Grundgesetz in Gefahr?
Im Juni 2020 stieß ich auf eine Petition, die die Streichung des Art. 146 GG fordert. Dieser Artikel erlaubt zumindest theoretisch die Ersetzung des Grundgesetzes durch eine Verfassung, „die vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Dies wird verschiedentlich als eine Verpflichtung interpretiert, das Grundgesetz irgendwannn durch eine – womöglich durch eine im Rahmen einer Volksabstimmung zu bestätigende – Verfassung zu ersetzen.
Die Beschäftigung mit dieser Petition ließ in mir die – in der Petitionsbegründung so nicht enthaltene – Befürchtung aufkommen, Art. 146 GG könne gewissermaßen eine „offene Flanke“ des Grundgesetzes darstellen. Dies in dem Sinne, dass mit einer neuen Verfassung die Schutzmechanismen beseitigt werden könnten, die eingedenk der Gräuel des Nationalsozialismus zur dauerhaften Erhaltung der neuen demokratischen Ordnung in das Grundgesetz hineingeschrieben wurden. Daher hatte ich auf dieser Webseite auf die Petition hingewiesen und die Leserinnen und Leser dieser Seite gebeten, sie mitzuzeichnen. Zwar hat sich die Anzahl der Mitzeichner nach diesem Hinweis auf insgesamt 95 in etwa verdoppelt; angesichts der möglichen Bedeutung des Anliegens, auf die ich (unter dem Pseudonym „Lebensschützer“) auch in der Diskussion hinzuweisen versucht hatte, ist das natürlich enttäuschend (selbstverständlich ist mir nicht bekannt, wie viele Mitzeichnungen von Leserinnen und Lesern dieser Website stammen). Ergänzend hierzu biete ich (weiterhin) eine Ausarbeitung an, in der ich das Problem und meine Überlegungen dazu näher darlege. Diese habe ich am 6. Juli 2020 den Mitgliedern des Petitionsausschusses mit diesem Begleittext per E-Mail zugeleitet.
Am 17. September 2020 erhielt ich ein auf den 7. September 2020 datiertes Schreiben des Petitionsausschusses, in dem mir mitgeteilt wird, dass die Mitglieder des Petitionsausschusses Gero Storjohann (Sprecher der CDU/CSU im Ausschuss) und Manfred Todtenhausen (Obmann der FDP im Ausschuss) den mit mir geführten Schriftverkehr dem Ausschussdienst zugeleitet haben. Dies hat zur Folge, dass die von mir eingereichten Unterlagen (s. vorhergehenden Absatz) in die Prüfung des Petitionsanliegens einbezogen werden. Offenbar gibt es also Abgeordnete, die bereit sinnd, sich mit den von mir erarbeiteten Argumenten auseinanderzusetzen. Dass Herr Todtenhausen sich zu einer offiziellen Weiterleitung der Unterlagen entschlossen hat, ist auch deswegen bemerkenswert, weil einer seiner Mitarbeiter mich in einer E-Mail vom 13.07.2020 wissen ließ: „Vorab kann ich Ihnen mitteilen, dass die FDP das
Anliegen, Artikel 146 GG zu streichen, nicht unterstützt.“
Was mag in diesen Menschen vorgehen?
... fragt man sich, wenn man gegen die zuvor beschriebene Petition, die ein durchaus ernsthaftes Problem angehen möchte, dabei aber die volle Tragweite desselben übersehen hat, einige andere hält. Beispielsweise die Petition 11560, die eine „Änderung des Bundeswahlgesetzes“ fordert. Nun wird ja derzeit (Anfang Juli 2020) gerade über eine solche diskutiert, weil für die im Jahr 2021 anstehende Bundestagswahl befürchtet wird, dass ohne eine solche der nächste Deutsche Bundestag mehr als 800 Abgeordnete zählen könnte (709 Abgeordnete sind es gegenwärtig, die „Sollgröße“ beträgt deren 598). Das erschwert nicht nur die politische Arbeit, sondern verursacht auch erhebliche Mehrkosten. Doch damit beschäftigt sich diese Petition gerade nicht: Sie fordert vielmehr (verkürzt formuliert), dass ein aus parteilosen Abgeordneten bestehendes Parlament einen Kanzler und eine von nur einer Partei gestellte Regierung mit einfacher Stimmenmehrheit wählen können soll. Bereits diese Kurzfassung des Anliegens sollte überdeutlich machen, wie unausgegoren dieser Vorschlag ist. Noch viel schlimmer ist jedoch die Tatsache, dass eine solche Regelung völlig unvereinbar mit dem Grundgesetz wäre und keinesfalls – wie in der Diskussion teils behauptet wird – eine „bessere“ Demokratie bewirken würde, sondern vielmehr – auch das wird in der Diskussion (glücklicherweise) angemerkt – deren Abschaffung bedeuten würde. Damit stellt sich dann die Frage: Ist der Mensch, der diese Petition eingebracht hat, tatsächlich so „verpeilt“, wie es auf den ersten Blick scheint, oder weiß er sehr genau, was die Konsequenzen aus dieser Forderung sind, und möchte er genau diese erreichen oder zumindest vorbereiten?
Allerdings gibt es darüber hinaus auch noch Petitionen, die einfach nur Kopfschütteln auslösen (müssen) und die Frage aufwerfen, ob denn diese Menschen wirklich keine anderen Probleme haben. So wird etwa gefordert, die Verwendung von 0,33 l-Bierflaschen einzustellen (wofür auch noch ökologische Gründe angeführt werden), oder – fast noch abstruser – die 1- und 2-Euro-Münzen abzuschaffen und stattdessen 1,50-Euro-Münzen zu prägen. Als Begründung wird u.a. angegeben, so könnten mehr Gewinn einbringende Sondermünzen geprägt werden. Es ist wohl nicht weiter verwunderlich, dass diese Petition nicht nur kaum Unterstützer gefunden hat (in gut drei Wochen gerade einmal sieben), sondern auch z.T. sarkastische Kommentare produziert hat. So kann man etwa lesen: „Das ist in jeder Hinsicht so absurd und unreif. Daher kann das nur ein ‚jugendlicher‘ Scherz sein. Machen Sie Ihre Späße auf Internet Spielplätzen und nicht da wo es um ernsthafte Themen geht.“ Oder (kürzer): „Was ein Schwachsinn. Es bleibt so wie es ist und das ist gut so.“
Wie sich manchmal erschreckende, Menschen verachtende Ansichten Bahn brechen können, möchte ich am Beispiel der Petition 108117 aufzeigen. Sie hatte den Fall zum Gegenstand, dass entgegen den Regeln der StVO abgestellte Fahrzeuge auf einen Rollstuhl oder einen Rollator angewiesenen Menschen den Weg versperren und von diesen beim Versuch, diese Engstelle dennoch zu passieren, beschädigt werden. Es wurde gefordert, dass in diesen Fällen die Haftung auf den Halter dieses Fahrzeugs übergehen solle. Dies führte dazu, dass Menschen mit Behinderung unterstellt wurde, sie würden in derartigen Fällen durch entsprechende Beschädigungen „Selbstjustiz“ üben wollen. Den Gipfel dieser ohnehin extrem unsachlich geführten Diskussion bildete dann der folgende Beitrag: „du lebensschützer. dass ich net lache. welche sekte ist die deinige_ ich parke da wo ich will um euch juppies euren scheiss bioquark mit von affen ausgeschissenen haselnussspalten bringen. da kann die heckklappe schonmal ruckkartig aufgerissen werden. fahrräder haben auch bremsen.“ (Zur Erläuterung: Der Petent hatte auch von Fahrrädern gesprochen, denen auf diese Art der Weg versperrt werden könnte.)
Ich habe mich sehr intensiv an der Diskussion zu dieser Petition beteiligt und mir dabei sehr häufig die Frage gestellt, wie die Teilnehmer, die sich entsprechend äußerten, zu einem solchen Bild von behinderten Menschen gelangt sein mochten. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Allerdings hat sich in mir immer wieder Fassungslosigkeit breit gemacht, wie sich in Menschen so viel Hass auf eine bestimmte Gruppe von Menschen aufstauen kann, dass er sich dann auch noch in einem öffentlichen Forum auf diese Weise Bahn brechen kann. Auch aus diesem Grund habe ich mich entschieden, keinem der so genannten „sozialen Netzwerke“ beizutreten, weil bekannt ist, dass dort Hassbotschaften (noch; 10.07.2020) nahezu unkontrolliert Verbreitung finden können.
Fazit:
Ich bin mir sehr unsicher, was ich denken soll. Wenn es so sein sollte, dass die beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages von den Bürgerinnen und Bürgern eingebrachten Petitionen (in etwa) ein Spiegelbild dessen darstellen, was die Menschen in Deutschland beschäftigt und umtreibt, dann frage ich mich, welche Schlüsse daraus gezogen werden können (müssen) – oder ob es vielleicht sogar besser ist, hierüber gar nicht nachzudenken. Glauben die Menschen, die wirklichen Probleme dieses Landes ließen sich überhaupt nicht lösen? Beschäftigen sie sich mit diesen Problemen möglicherweise sogar gar nicht? Sind sie bei den Diskussionen teils weniger an sachlicher Argumentation interessiert als einfach nur daran, ihren Frust abzulassen und/oder ihren Hass hinauszuposaunen? Soll mit so manchem anscheinend „seriösen“ Anliegen verschleiert werden, dass eigentlich der Wunsch nach einer Ablösung, einem Umsturz unserer bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung dahintersteht? – Es ist mir wichtig, diese Fragen einmal aufzuwerfen. Wenn Sie mit mir darüber diskutieren möchten, freue ich mich auf Ihren Beitrag. Sollten genügend zusammenkommen, werde ich sie in einem Forum zusammenstellen und so versuchen, sie einer breiteren Diskussion zuzuführen. Sie sind herzlich eingeladen!
Damit keine Missverständnisse entstehen: Es gibt selbstverständlich auch Petitionen mit ernsthaften Anliegen und seriös geführten Diskussionen in diesem Forum. Doch mein subjektiver Eindruck ist, dass sich diese in der Minderzahl befinden. Und das finde ich schade: Eine Petition verstehe ich als eine Möglichkeit, ein wichtiges Anliegen in die politische Diskussion einzubringen, das nicht nur mich, sondern entweder noch eine Menge anderer Menschen in diesem Land oder möglicherweise unser gesamtes Staatswesen betrifft. Dabei sollten aber nach meinem Dafürhalten zum einen die Regeln der Fairness und zudem – fast noch wichtiger – die Schranken beachtet werden, die unser Grundgesetz setzt. Und von manchem Petenten würde ich mir einfach wünschen, dass er sich vor dem Abfassen seines Anliegens ein wenig mehr mit dem Gegenstand seiner Petition auseinandersetzt. So finden sich immer wieder Petitionen, deren Anliegen bereits erfüllt ist, aus in der Natur der Sache liegenden Gründen gar nicht erfüllt werden kann – oder eben sogar bei Umsetzung gegen das Grundgesetz verstoßen würde.