Die Thüringen-Krise
Und wieder: Thomas Kemmerich!
Update vom 14.05.2020, 11.10 Uhr: Am 13. Mai 2020 hat Thomas Kemmerich eine erste Konsequenz aus seinem neuerlichen Fehltritt (s.u.) gezogen und lässt seine Tätigkeit im Bundesvorstand der FDP zunächst bis Jahresende ruhen. Man darf gespannt sein, ob dieser Schritt seine parteiinternen Kritiker zufriedenzustellen vermag.
Die „Thüringen-Krise“ als solche ist längst vorbei: Am 4. März 2020 wurde Bodo Ramelow wie zuvor vereinbart (s. den nachfolgenden Artikel) trotz aller zuvor doch noch ausgetragenen poltischen Scharmützel zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. Man durfte also annehmen, alles sei so einigermaßen wieder im Lot und die Dinge in diesem Land würden so lala wieder ihren geordneten Gang gehen. Doch am Wochenende des 9./10. Mai 2020 ließ er wieder aufhorchen: Thomas Kemmerich, der unrühmliche Hauptakteur dieser Vorgänge.
Irgendwie nach der Devise: „Ich, Thomas Kemmerich – einfach unverbesserlich!“, zeigte er sich am 9. Mai 2020 in Gera auf einer Demonstration gegen die „Corona“-Beschränkungen – ohne Mundschutz und unter Missachtung des Abstandsgebots. Dumm nur, dass auf dieser Demo auch noch AfD-Mitglieder anwesend waren und obendrein wohl zudem Verschwörungstheorien plakatiert wurden; auch ein den Holocaust relativierendes Plakat mit einem Davidstern soll gezeigt worden sein. Zwar hat sich Kemmerich am 10. Mai 2020 für sein Verhalten entschuldigt und eingeräumt, gleich mehrere Fehler gemacht zu haben: dass auch AfD-Politiker und Verschwörungstheoretiker unter die Demonstranten mischen würden, sei ihm „nicht klar gewesen, und er bedaure ausdrücklich, dass der Eindruck entstanden sei, er würde sich nicht an Maskenpflicht oder Abstandsregeln halten. Zudem betont er: „Wer mich kennt, weiß, dass ich mit der AfD nichts gemein habe, hatte und haben werde.“
Selbst in seiner eigenen Partei stießen diese Vorgänge auf massive Kritik und Unverständnis. Der Parteivorsitzende Christian Lindner machte klar, die FDP setze sich zwar für eine bessere Vereinbarkeit von Gesundheitsschutz und Freiheit ein; man dürfe aber nicht in die Nähe von Rechtsextremen, der AfD, Linken oder Verschwörungstheoretikern kommen. Noch deutlicher wurde das Mitglied des FDP-Bundesvorstands, Marie-Agnes Strack-Zimmermann; in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ vom 10.05.2020 erklärt sie unter anderem: „Ich bin persönlich sehr enttäuscht von Thomas Kemmerich, den ich bis Anfang Februar als ausgesprochen angenehmen Kollegen erleben durfte. Offensichtlich sucht er jetzt nicht nur physisch die Nähe zur AfD, sondern auch zu Verschwörungstheoretikern und hat inzwischen wohl auch Gefallen an deren demokratiezersetzendem Kurs gefunden. Ich halte das Verhalten von ihm für schwerst parteischädigend, und man kann das nach dem Wahldebakel in Thüringen auch nicht mehr als einzelne Verirrung abtun. Meine ganz persönliche Meinung dazu ist: Wir als FDP-Bundesvorstand sollten Thomas Kemmerich dazu auffordern, seinen Hut zu nehmen und die FDP zu verlassen.“
Meine Meinung:
Den Worten von Frau Strack-Zimmermann ist nicht mehr allzu viel hinzuzufügen. Selbst wenn er es immer wieder bestreitet: Wohl jeder halbwegs unvoreingenommene Beobachter wird den Eindruck gewinnen müssen, dass Thomas Kemmerich eine Nähe zur AfD sucht. Sein Verhalten sowohl bei der Ministerpräsidenten-Wahl vom 5. Februar 2020 (s. Artikel weiter unten auf dieser Seite) als auch bei dieser Demo-Teilnahme lässt keinen anderen Schluss zu. Auch sein gesamtes Verhalten erinnert stark an das von AfD-Politikern: Zunächst eine provokative Äußerung oder ein solches Verhalten, dann – nach aufkommender Kritik: „Oh nein, Entschuldigung, so war das doch überhaupt nicht gemeint! Oder sollte Thomas Kemmerich so politisch instinktlos (um nicht zu sagen: dumm) sein, dass er wirklich nicht merkt, was er mit seinem Verhalten – jedenfalls nach der besagten Ministerpräsidenten-Wahl – nun mindestens zum zweiten Mal anstellt? Wenn das der Fall sein sollte, dann hat dieser Mann – mit Verlaub – in der Politik aber auch nicht das Geringste verloren!
Und sie bewegt sich doch!
... die Union. Am 21. Februar 2020 gelang in der „Thüringen-Krise“ offenbar ein – durchaus als historisch zu bezeichnender – Durchbruch: Kurz vor 21.45 Uhr an diesem Tag verkündete Bodo Ramelow, als er mit Vertretern der anderen beteiligten Parteien vor die Presse trat, man sei übereingekommen, am 4. März 2020 eine erneute Ministerpräsidenten-Wahl durchzuführen. Er gehe davon aus, bei dieser im ersten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Anschließend solle eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung vereidigt werden. Diese solle nach der Verabschiedung eines Haushalts für das Jahr 2021 eine Neuwahl des Landtags am 25. April 2021 herbeiführen. Für diese Zeit sei zwischen den Parteien DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DE GRÜNEN und CDU ein „Stabilitätsmechanismus“ vereinbart worden; dieser beinhalte, keine Projekte zu beginnen, die mit Unterstützung der AfD verabschiedet werden könnten.
Für viele Menschen in Deutschland war es nicht mehr zu verstehen: Obwohl es nach der Landtagswahl in Thüringen vom 27. Oktober 2019 eigentlich keine Möglichkeit gab, außer mit Hilfe der AfD eine Wahl eines Ministerpräsidenten vorbei an der LINKEN zu organisieren, hielt die CDU starr und steif an ihrem „Abgrenzungsbeschluss“ fest: keine Zusammenarbeit mit den „Rändern“, also mit der AfD und der LINKEN. Nachdem sich schon am Wahlabend eine solche Situation abzeichnete, dachte der Thüringer CDU-Vorsitzende, Mike Mohring, laut darüber nach, mit dem nun ohne parlamentarische Mehrheit dastehenden, gleichwohl bei den Thüringern ganz offensichtlich sehr beliebten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow Gespräche zu führen, um eine Minderheitsregierung der bisherigen Koalitionsparteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter dessen Führung zu ermöglichen. Allerdings wurde er bereits am nächsten Tag von den Spitzen der Bundes-CDU „zurückgepfiffen“, und auch die Bemühungen des Altbundespräsidenten Joachim Gauck um eine Vermittlung scheiterten. Die letztendlichen Folgen dieser Vorgänge lassen sich weiter unten auf dieser Seite nachlesen.
Nun war also guter Rat extrem teuer. CDU und FDP hatten sich von der AfD hereinlegen lassen, und das stümperhafte Verhalten des mit den AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählten Thomas Kemmerich (s. die nachfolgenden Artikel) hatte nicht nur ein politisches Erdbeben ausgelöst, das über Thüringen hinaus ganz Deutschland erschütterte, sondern damit selbstverständlich auch erhebliche Verunsicherung bis Verstimmung bei den Wählern dieser beiden Parteien ausgelöst. Trotz des angerichteten Schadens für die Demokratie nicht nur in Thüringen, sondern sehr wohl auch in ganz Deutschland, und trotz Appellen von verschiedensten Seiten, angesichts der in Thüringen eingetretenen und sich womöglich nach den Wahlen in Sachsen-Anhalt im kommenden Jahr abzeichnenden Situation das strikte Kooperationsverbot mit der LINKEN wenigstens für den Bereich der östlichen Bundesländer zu überdenken, blieben führende Politiker aus CDU und CSU dabei, es könne und dürfe mit der LINKEN keinerlei Zusammenarbeit geben. In dieser Situation ging Bodo Ramelow am Abend des 17. Februar 2020 mit einem Vorschlag in die Offensive: Die CDU-Politikerin und ehemalige Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht solle an der Spitze einer „technischen“ Regierung, bestehend neben ihr als Ministerpräsidentin aus einem Finanzminister, einem Innenminister und einem Chef der Staatskanzlei, innerhalb von 70 Tagen das Land zu Neuwahlen führen.
Aus Sicht der CDU ein geradezu „teuflisches“ Angebot: Sie sollte den Posten des Regierungschefs bekommen, was sie der Notwendigkeit entheben würde, einen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und eine von ihm geführte Minderheitsregierung unter Führung der LINKEN ins Amt zu heben. Allerdings um den Preis, spätestens im Mai 2020 Neuwahlen abhalten zu lassen, für die sich eine weitere Verkleinerung der ohnehin bereits stark geschrumpften CDU-Landtagsfraktion abzeichnen würde. So begann die CDU-Landtagsfraktion über einen späteren Wahltermin zu verhandeln – was dazu führte, dass Frau Lieberknecht am 19. Februar 2020 erklärte, angesichts der fortdauernden Diskussionen über einen Wahltermin ziehe sie ihr Angebot zurück, für das Amt der Ministerpräsidentin zu kandidieren. Stattdessen verkündete sie, die einzig möglich Lösung sehe sie nun nur noch in einer Koalition der CDU mit der LINKEN. Wieder drohte politischer Stillstand. Doch nach einer Denkpause von weiteren zwei Tagen folgte die eingangs skizzierte Einigung.
Meine Meinung:
Hier hat anscheinend der gesunde Menschenverstand über politische Sturheit gesiegt, mit der in dieser Situation der berühmte Blumentopf nicht mehr zu gewinnen war (und vielleicht in Zukunft immer seltener zu gewinnen sein wird). Wenngleich es aus der Sicht eines Großteils der Wähler von CDU und CSU nachvollziehbar sein mag, sich von einer Partei abzugrenzen, die aus der Partei hervorgegangen ist, die für die unbestreitbar in der DDR begangenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war, so muss doch auch die Frage erlaubt sein, ob eine solche Abgrenzung, verbunden mit einem strikten Verbot der Zusammenarbeit, noch zeitgemäß ist. Schließlich jährt sich in diesem Jahr zum dreißigsten (!) Mal die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und damit auch das Ende der DDR, und damit stellt sich die Frage, wie viele der Personen, die seinerzeit für das erwähnte Unrecht verantwortlich waren, heute noch Mitglied in dieser Partei sind. Ist es also noch gerechtfertigt, diese Partei auszugrenzen, nur weil sie sich als Organisation weigert, die DDR als einen „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, zumal diese Weigerung jedenfalls zum Teil damit begründet wird, dass damit eine gewisse Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus verbunden sei? Diese Frage kann bejaht werden; allerdings sollte man sich eine solche Bejahung nicht zu einfach machen. Schließlich gibt es in Deutschland auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine Partei, die – anders als jedenfalls die übergroße Mehrheit der LINKEN – die Grundfesten unseres Staates, unserer Demokratie, in Frage stellt, die in immer größeren Teilen die schrecklichsten Zeiten verharmlost, die Deutschland jemals durchlebt hat, und damit mit die schrecklichsten Verbrechen, die die Menschheit jemals gesehen hat und die eben von Deutschland ausgegangen sind. Und unter dieser Abwägung, so denke ich, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, diese Partei aus politischer Verantwortung in Deutschland herauszuhalten. Und wo dies nur mit Hilfe der LINKEN geschehen kann, da sollte dies auch so gehandhabt werden. Der Apfel, in den da gebissen werden muss, mag sauer sein; doch der Verlust all dessen, was in Deutschland seit 1945 erfolgreich aufgebaut worden ist, würde wohl weit schwerer im Magen liegen als dieser saure Apfel.
Wirklich beruhigt bin ich allerdings erst, wenn Bodo Ramelow am 4. März 2020 tatsächlich zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden ist. Zwar scheint es (Stand 22. Februar 2020) so zu sein, dass – in welcher Form auch immer – seitens der Bundes-CDU Einverständnis mit der Entscheidung der Thüringer Parteikollegen signalisiert wurde; dennoch gibt es gerade in dieser Frage viele einflussreiche Hardliner in der CDU, und bis zum 4. März 2020 wird noch viel Wasser die Spree hinunterfließen. Doch ich hoffe, dass bei allen Beteiligten (und Unbeteiligten) die Einsicht siegen wird, dass letztlich doch die Interessen eines Landes höher einzuschätzen sein sollten als die Interessen der eigenen Partei – und vielleicht die nach dem Erhalt des eigenen Parlamentssitzes.
Nächster Donnerschlag – Abgang von „AKK“!
Bereits am Vormittag des 10. Februar 2020 platzte die nächste politische Bombe in der „Thüringen-Affäre“: Die Vorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, kündigte ihren Verzicht auf den CDU-Vorsitz und damit eine mit diesem verbundene Kandidatur für das Amt der Bundeskanzlerin an. Nun ist es sicherlich so, dass sich „AKK“ mit ihren bisherigen Bemühungen in dieser Affäre nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat; da sie in ihrer Partei bereits zuvor nicht unbedingt unumstritten war, dürfte sie sich mit diesem Verhalten und dem mit ihm einhergehenden (weiteren) Autoritätsverlust letztlich ihr eigenes Grab gegraben haben. Aber auch wenn ich ihr persönlich keineswegs nachtrauere, macht mich diese weitere Folge der missglückten Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen nicht nur betroffen, sondern tief besorgt. Die mindestens unbedachte, ja naiv zu nennende Vorgehensweise des Thomas Kemmerich scheint, noch mehr, als in dem weiter unten nachzulesenden Artikel „Kemmerich geht – der Schaden bleibt!“ befürchtet, bleibende Schäden für die Demokratie und das politische System in Deutschland zu verursachen. Es ist zu befürchten, dass diese Ereignisse in ihrer Gesamtheit zu einer Stärkung der Politikverdrossenheit in unserem Land und damit nahezu zwangsläufig zu einer weiteren Stärkung der AfD führen werden. Da es immer klarer zu werden scheint, dass diese Partei mehr und mehr von Björn Höckes „Flügel“ dominiert wird, können diese Aussichten für Deutschland nichts Gutes bedeuten. Alle wirklichen Demokraten sind in dieser Situation mehr denn je aufgefordert, die kritische Auseinandersetzung mit der AfD zu suchen, ihre die Gesellschaft spalten wollenden Tendenzen aufzuzeigen und ihre falschen Behauptungen zu widerlegen. Und alle demokratischen Parteien – zu denen ich zwar nicht in Gänze, aber doch in großen Teilen auch DIE LINKE zähle – und ihre Mitglieder sind aufgerufen, sich unmissverständlich von der AfD abzugrenzen. Ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen, die im „Dritten Reich“ ebenso der Vernichtung anheim gegeben waren wie die jüdischen Bürger; daher möchte ich mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln verhindern, dass eine Partei, deren Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag diese Zeit als einen „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnete (eine Äußerung, die erst gestern wieder von seiner Ko-Vorsitzenden zu verharmlosen versucht wurde), in irgendeiner Weise Einfluss auf die Deutsche Politik bekommt. Ich bitte alle Leser dieser Webseite: Steht auf! Wehret den Anfängen!
Wie geht es in Thüringen weiter?
Den meisten Menschen wird es nicht entgangen sein: Die Wendungen in der „Thüringen-Affäre“ nahmen auch am Wochenende kein Ende. Hatte Thomas Kemmerich noch am 7. Februar 2020 erklärt, ein sofortiger Rücktritt sei nicht möglich (im nachfolgenden Artikel ist dies nur angedeutet worden), so war auch diese Erklärung nur einen Tag später wieder überholt: Am Vormittag des 8. Februar 2020 erklärte er eben diesen sofortigen Rücktritt. Da wahrscheinlich nicht nur mich diese erneute Kehrtwende Kemmerichs mangels irgendwelcher Erklärungen für diese und alle vorhergehenden (s. hierzu den nachfolgenden Artikel) ratlos zurücklässt, beschloss ich, ihn selbst hierzu zu befragen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der gute Mann außerhalb der sozialen Medien offenbar keine frei erreichbare E-Mail-Adresse besitzt (die Bundestags-Adresse scheint noch zu existieren; da er allerdings aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden ist, dürfte seine Erreichbarkeit über diese zumindest fraglich sein). So entschloss ich mich, das Wochenende nicht nur zur Erholung, sondern auch zur Abfassung eines Briefes an Thomas Kemmerich zu nutzen. In diesem bitte ich ihn – auch im Namen der Wählerinnen und Wähler sowie der Leserinnen und Leser dieser Webseite –, seine vielfachen, in dem Schreiben noch einmal aufgeführten Kehrtwendungen im Zusammenhang mit seiner Kandidatur und Wahl zu erklären. Zudem äußere ich meine Auffassung, dass er mit seinem Verhalten schweren Schaden auch für die Bundesrepublik Deutschland angerichtet hat (was sich mit den Ereignissen des 10. Februar 2020 mehr und mehr zu bestätigen scheint; vgl. obenstehenden Artikel), und fordere ihn auf, aus diesem Grund nach dem Ende seiner Amtszeit als geschäftsführender Ministerpräsident Thüringens auch sein Landtagsmandat niederzulegen und auf weitere Kandidaturen als Abgeordneter zu verzichten.
Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der Kemmerich mit seinem schnellen Besuch in Erfurt immerhin zu seiner Rücktrittsankündigung bewegen konnte, meldete sich am Wochenende mit weiteren Erklärungen zu Wort. Dabei betonte er noch einmal, er sei von dem Verhalten der Thüringer AfD, im dritten Wahlgang den eigenen Kandidaten fallen zu lassen (vgl. unten „Polit-Skandal in Thüringen – Ministerpräsident von AfD-Gnaden!“), „völlig überrascht“ worden; mit einem solchen Verhalten habe er nicht gerechnet. Ihn habe ich in einer E-Mail darauf hingewiesen, dass es möglicherweise für einen erfahrenen Politiker durchaus erkennbar gewesen sein könnte, die Taktik der AfD zu durchschauen: Zum einen hatte der AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Björn Höcke, bereits im November 2019 ein Schreiben sowohl an Kemmerich als auch an den Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion, Mike Mohring, gerichtet, in dem er beiden eine Zusammenarbeit vorschlug. Zwar ist offenbar keiner der beiden Angeschriebenen hierauf in irgendeiner Weise eingegangen; dennoch stand dieses Schreiben noch immer im Raum. Zudem hätte der Umstand einen Hinweis auf unlautere Absichten liefen können, dass die AfD als ihren Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten kein Mitglied ihrer eigenen Partei, sondern einen Parteilosen aufstellte. Hier drängt sich – jedenfalls im Nachhinein, für einen erfahrenen Politiker aber vielleicht doch im Vorfeld erkennbar – der dahinterstehende Gedanke auf, dass ein solcher Kandidat in der letztlich geschehenen Weise problemloser fallengelassen werden kann als ein Mitglied der eigenen Partei. Hierzu habe ich Herrn Lindner um eine Einschätzung gebeten.
Auch der ARD-Polittalk „Anne Will“ beschäftigte sich am Sonntagabend (10.02.2020) mit diesem Thema. Dabei wurde auch diskutiert, ob es nicht angemessen, ja geboten sei, dass zu einer möglichst raschen Lösung der Krise in Thüringen die CDU ihre Bereitschaft erkläre, den am Mittwoch letzter Woche abgewählten Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten mitzuwählen. Schließlich stehe Thüringen nach dem von Thomas Kemmerich erklärten sofortigen Rücktritt bis zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten ohne Regierung da. Der von der CDU entsandte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier erklärte daraufhin sehr wortreich, aber wohl nicht nur aus meiner Sicht wenig überzeugend, weshalb sich die CDU sowohl von einer Zusammenarbeit mit der AfD als von einer solchen mit der LINKEN abgrenzen müsse. Auch ihm habe ich eine E-Mail geschrieben, in der ich darlege, dass sich die CDU möglicherweise aus historischen Gründen als eine „staatstragende“ Partei verstehe, dass diese Rolle aber möglicherweise hinterfragt werden müsse und aus meiner Sicht in der gegenwärtigen Situation auch falsch interpretiert worden sei. Auch im Ausland werde mittlerweile die Frage gestellt, ob die strikte Abgrenzung sowohl gegen die AfD als auch gegen DIE LINKE noch zeitgemäß sei; gegenüber der letztgenannten Partei sei sie jedenfalls nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar (vgl. „Internationaler Frühschoppen“ vom 09.02.2020 [leider nur als Audio-Datei verfügbar]).
Ebenfalls in der Sendung „Anne Will“ erklärte die AfD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, die Aufforderung ihres Ko-Vorsitzenden Alexander Gauland an die Thüringer AfD-Abgeordneten, im Falle eines Falles auch Bodo Ramelow bei der Ministerpräsidenten-Wahl ihre Stimme zu geben, damit auch er infolgedessen sein Amt nicht antreten könne, sei „nur ein Scherz“ gewesen. Mein Kommentar hierzu: Es wäre mir neu, dass AfD-Politiker zu scherzen belieben, insofern bin ich nicht sehr geneigt, Frau Weidel Glauben zu schenken. Vielmehr halte ich es angesichts des allgemeinen politischen Verhaltens der AfD für sehr wohl denkbar, dass Alexander Gauland den unmissverständlichen Hinweis geben wollte: „Wir als AfD sind in der Lage, jeden Ministerpräsidenten zu verhindern und so die ‚Altparteien‘ vorzuführen, wo immer es uns beliebt.“ In meinem Schreiben an Thomas Kemmerich habe ich u.a. deutlich gemacht, dass eine solche Strategie der AfD nur möglich geworden sei, weil er nicht unmittelbar nach seiner Wahl die Annahme des ihm angetragenen Amtes ausschlug.
Kemmerich tritt zurück – der Schaden bleibt!
Etwa 24 Stunden dauerte es, bis – zumindest vordergründig – „die Kuh vom Eis“ war. Nach einer Krisenintervention des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, der hierfür eigens in die thüringische Landeshauptstadt Erfurt geeilt war, erklärte der tags zuvor mit den Stimmen der AfD ins Amt gelangte Ministerpräsident Thomas Kemmerich (vgl. den nachfolgenden Artikel) seine Bereitschaft zum Rücktritt. Bemerkenswert, denn noch wenige Stunden zuvor hatte er in einem Interview mit dem ARD-„Morgenmagazin“ diesen kategorisch ausgeschlossen. Zudem kündigte er an, die FDP-Fraktion im Thüringer Landtag werde die Auflösung des Landtags beantragen. So wolle er den Makel vom Amt des Ministerpräsidenten nehmen, der durch die Unterstützung seiner Wahl durch die AfD auf dieses gefallen sei.
So weit, so gut. Oder doch nicht? Sehen wir näher hin: Zunächst einmal handelt es sich lediglich um einen angekündigten Rücktritt. Kein Wort dazu, wann er erfolgen soll, kein Wort dazu, wie es weitergehen soll. Die Auflösung des Landtages hatte er noch wenige Stunden zuvor ausgeschlossen, und zwar mit einem durchaus stichhaltigen Argument: Würde in der gegebenen Situation gewählt werden, würden „die Ränder“ (sprich: AfD und DIE LINKE) weiter gestärkt werden (und was er [wohlweislich?] nicht erwähnte, die FDP vermutlich wieder aus dem Landtag fliegen, hatte sie doch die 5%-Hürde bei der Wahl gerade einmal mit 73 Stimmen übersprungen). Und: So einfach kann der Thüringer Landtag nicht aufgelöst werden. Der Antrag muss zunächst einmal von einem Drittel der Abgeordneten eingebracht werden; das sind 30. Sodann ist für die tatsächliche Auflösung eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig, also die Zustimmung von mindestens 60 Abgeordneten. Zudem dürfte es nicht wenig Widerstand gegen Neuwahlen geben: Die FDP würde – insbesondere nach dieser „Politposse“ – mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wieder in den Landtag einziehen, bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN würde hinter dem Wiedereinzug ebenfalls ein Fragezeichen stehen (sie hatten mit 5,5% der Stimmen ebenfalls nur sehr knapp den Einzug geschafft), und SPD und CDU müssten ebenfalls mit (weiteren) Verlusten rechnen. Gewinner wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich die AfD, die – man erinnert sich hoffentlich – bereits jetzt zweitstärkste Kraft in diesem Parlament ist. Zusammengefasst: Bei einer Neuwahl bestünde kaum eine Chance, dass die auf sie notwendigerweise folgende Regierungsbildung einfacher würde als in der gegenwärtigen Konstellation – vermutlich wäre das Gegenteil der Fall.
Erstaunlicherweise erklärte der Spitzenkandidat der SPD, Wolfgang Tiefensee, über eine Parlamentsauflösung zumindest nachdenken zu wollen. Ablehnung kam sofort von der LINKEN, und auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigten sich wenig begeistert. Während die AfD – wen wundert's? – Zustimmung signalisierte, entwickelte sich bei der CDU die nächste Politposse (besser: ein Polit-Drama): Bereits unmittelbar nach der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten hatte die Bundes-CDU in Gestalt des Generalsekretärs Paul Ziemiak und der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer verkündet, Neuwahlen seien nun die einzig mögliche Lösung. Dies sah die Thüringer CDU – ebenfalls wenig verwunderlich – ein wenig anders. So eilte auch Frau Kramp-Karrenbauer am Abend des 6. Februar 2020 von Berlin nach Erfurt, um ihre dortigen Parteifreunde auf die von ihr vorgegebene Linie einzuschwören. Für 20.30 Uhr am Abend dieses Tages war eine gemeinsame Pressekonferenz der Bundesvorsitzenden und des zuvor vom Vorstand in seinem Amt bestätigten Landesvorsitzenden Mike Mohring angekündigt; allein saßen die Mitglieder der Landtagsfraktion und die Bundesvorsitzende zur Sendezeit des ARD-„Nachtmagazins“ um immerhin 0.19 Uhr in der Nacht immer nocch zusammen. Wann man endlich auseinandergehen konnte, habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können. Das Ergebnis dürfte jedoch als Niederlage für Annegret Kramp-Karrenbauer gewertet werden können: Es wurde entschieden, dass zunächst weitere Gespräche geführt werden sollen, um mit der aktuellen Zusammensetzung des Thüringer Landtags doch noch zu einer Lösung zu kommen. Erst wenn dies nicht möglich sei, wolle auch die CDU-Fraktion der Auflösung des Landtages zustimmen.
Was bleibt nun? So lange Thomas Kemmerich nicht zurücktritt, ist er gewählter Ministerpräsident Thüringens – allerdings ohne Regierung. Selbst wenn er zurückträte, bliebe er nach der Landesverfassung geschäftsführend im Amt – entweder, bis ein neuer Ministerpräsident oder ein neuer Landtag gewählt worden ist. Er kann allerdings mit Hilfe eines „konstruktiven Misstrauensvotums“ gestürzt werden; wenn der Landtag mit Mehrheit (und zwar nach meinen Informationen mit einfacher Mehrheit, also der Mehrheit der abgegebenen Stimmen) einen neuen Ministerpräsidenten wählt. Am 7. Februar 2020 meldet sich – wenige Stunden nach ihrer Niederlage in Erfurt – Frau Kramp-Karrenbauer aus Berlin zu Wort: Sie verkündet, der bisherige (vor zwei Tagen abgewählte) Ministerpräsident Bodo Ramelow habe keine Chance auf eine Mehrheit, und fordert die Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD im Thüringer Landtag auf, sie möchten doch ihrerseits einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten bzw. der Ministerpräsidentin benennen, um so einen Ausweg aus der Krise zu ermöglichen. Beide Parteien haben dieses Ansinnen allerdings umgehend zurückgewiesen. Bekannt wurde außerdem, dass Mitglieder der CDU-Fraktion das Gespräch mit Politikern der LINKEN gesucht haben sollen, um einen Ausweg aus der Situation zu finden. Diese Fraktion hat Thomas Kemmerich im Übrigen aufgefordert, bis spätestens Sonntag, den 9. Februar 2020, offiziell zurückzutreten.
Bewertung
Es ist zunächst einmal bemerkenswert, wie schnell in dieser – ohne Zweifel nicht einfachen – Situation von vielen Beteiligten Neuwahlen gefordert werden. Das hierfür vorgebrachte Argument, in dieser Situation müsse der Souverän entscheiden, also das Volk bzw. die Wählerinnen und Wähler, erscheint mir fadenscheinig. Zum einen hat der Souverän erst vor gut drei Monaten entschieden, woraus sich die aktuelle Zusammensetzung des Thüringer Landtags ergeben hat, zum anderen ist – wie oben bereits dargestellt – kaum zu erwarten, dass diese neuerliche Entscheidung die Möglichkeiten für eine Regierungsbildung verbessern würde. Vielmehr ist es Aufgabe der in dieses Parlament gewählten Politiker, im Sinne ihres Landes – und eben nicht im Interesse ihrer jeweiligen Parteien – in der gegebenen Konstellation eine Lösung zu finden. Von der AfD dürfte allerdings hierzu am allerwenigsten ein Beitrag zu erwarten sein.
Was ist eigentlich passiert? Bei der Wahl 2014 war die CDU noch stärkste Kraft im Thüringer Landtag geworden. Weil sie jedoch keinen Koalitionspartner fand (der einzig mögliche wäre die AfD gewesen, und dass man mit ihr nicht zusammengehen wollte, lag auf der Hand und muss nicht weiter kommentiert werden), ergab sich ein Bündnis aus DIE LIINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das den LINKEN-Politiker Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten wählte (DIE LINKE war in dieser Koalition stärkste Kraft). Die CDU fühlte sich angesichts der Tatsachen, dass sie zum einen (immer noch) stärkste politische Kraft im Lande und war und zum anderen seit der Gründung desselben immer den Ministerpräsidenten gestellt hatte, zurückgesetzt. Erklärtes Ziel war nun bei der Landtagswahl 2019, Rot-Rot-Grün und dessen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow abzuwählen (bzw. abwählen zu lassen). Das funktionierte zwar: die drei Parteien erreichten nicht mehr die absolute Mehrheit im neu gewählten Landtag. Allerdings wurde DIE LINKE stärkste Kraft, und die CDU fiel hinter der AfD auf Platz drei zurück. Nun gibt es seitens der Bundes-CDU so genannte „Unvereinbarkeits-Beschlüsse“, also ein Verbot der Zusammenarbeit, sowohl hinsichtlich der LINKEN als auch der AfD. Bei der LINKEN fußt dieser Beschluss darauf, dass diese Partei letztlich als „Nachfolgepartei der SED“ angesehen wird, der Partei also, die die Politik der untergegangenen DDR bestimmte, und somit als "Kommunisten". Bei der AfD wird die Verweigerung einer Zusammenarbeit damit begründet, dass sie „rechtsextremistisch“ und insbesondere der vom Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke gegründete und geführte „Flügel“ offen neonazistisch sei (er wird deswegen auch seit geraumer Zeit vom Verfassungsschutz wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen beobachtet. Folglich lehnt die (Bundes-)CDU eine Zusammenarbeit mit der AfD ebenso ab wie eine irgendwie geartete Unterstützung eines von der LINKEN gestellten Ministerpräsidenten.
Nun mag Letzteres in der Vergangenheit möglicherweise gerechtfertigt gewesen sein. Doch zum einen jährt sich das Ende der DDR im Jahr 2020 zum dreißigsten (!) Mal, und zum anderen stammt Bodo Ramnelow aus Niedersachsen. Zudem hat es Kerstin Palzer vom MDR in ihrem tagesthemen-Kommentar vom 06.02.2020 mit dem Satz auf den Punkt gebracht: „Björn Höcke ist mit Sicherheit ein Faschist, aber Bodo Ramelow ist kein Kommunist.“ Doch anscheinend kann es die Vorsitzende der CDU Deutschlands nicht verkraften, dass ihre Partei – anders als seinerzeit die SED in der DDR – keinen immerwährenden Führungsanspruch in Deutschland und/oder in einzelnen Bundesländern besitzt – und somit auch nicht anderen Parteien vorschreiben kann, was sie zu tun und wie sie sich zu verhalten haben.
Ausblick
Mit dem 5. Februar 2020 hat es einen Einschnitt (eine „Zäsur“) in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Eine Partei, die in großen Teilen als rechtsextrem, ja als neonazistisch bezeichnet werden muss, ist durch (ein milder Ausdruck, wie ich finde) eine politische Instinktlosigkeit hoffähig gemacht und völlig ohne Not mit dem Attribut „bürgerlich“ versehen worden. Doch wenn es nur das wäre! Eigentlich noch erschreckender ist das Ergebnis einer Blitzumfrage für den ARD-„Deutschlandtrend“: Auf die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit der AfD antworteten 22% der Befragten, dies solle von Fall zu Fall entschieden werden. Ist dies in meinen Augen bereits erschreckend, so ist das Ergebnis dieser Frage bei den Anhängern der FDP geradezu „mega-erschreckend“: diese waren zu sage und schreibe 62% dieser Auffassung!
Was ist zu tun? Es muss klar gemacht werden, dass es mit einer Partei, die in Gestalt des Vorsitzenden ihrer Bundestagsfraktion das Dritte Reich als einen „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnete und in Gestalt ihres thüringischen Landesvorsitzenden Äußerungen von sich gibt, die die eigenen Parteimitglieder nicht von solchen Adolf Hitlers unterscheiden können, keine politische Zusammenarbeit geben kann. Andererseits sind insbesondere in Bezug auf die östlichen Bundesländer alte Feindbilder zu überdenken, weil angesichts der Stärke der zuvor beschriebenen Partei in diesen Ländern ansonsten dort bald keine verantwortlich gestaltete Politik mehr möglich sein wird. Und die „etablierten“ Parteien müssen aufhören, sich mit sich selbst und insbesondere ihren aus früheren Zeiten herrührenden „Ansprüchen“ zu beschäftigen und sich stattdessen darauf konzentrieren, die Bedürfnisse und Bedarfe der Bürgerinnen und Bürger in den Fokus zu nehmen, mit ihnen ebenso ins Gespräch zu kommen wie es die AfD tut und auf diese Weise deren Wählerschaft zurückzugewinnen. Diese Zäsur kann, nein: muss ein Weckruf sein; ansonsten bewahrheitet sich womöglich ein Zitat Heinrich Heines: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht!“
Politik-Skandal in Thüringen – Ministerpräsident von AfD-Gnaden!
Heute – am 5. Februar 2020 – hat sich im Thüringer Landtag etwas ereignet, das mit Fug und Recht als „politisches Erdbeben“ bezeichnet werden kann – ja, bezeichnet werden muss: Ein FDP-Politiker wurde mit den Stimmen der AfD-Fraktion im thüringischen Landtag zum Ministerpräsidenten des Landes gewählt! Wie konnte das geschehen? Nach der Landtagswahl im Oktober letzten Jahres war die Partei DIE LINKE, die in der abgelaufenen Wahlperiode den Ministerpräsidenten (Bodo Ramelow) gestellt hatte, stärkste Partei vor der AfD geworden; allerdings hatte die bisherige Regierungskoalition aus DIE LINKE. SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihre parlamentarische Mehrheit verloren. Unmittelbar nach der Wahl hatte der thüringische CDU-Vorsitzende, Mike Mohring, angedeutet, er könne sich eine Zusammenarbeit mit dem bei der Bevölkerung beliebten Ministerpräsidenten vorstellen könne. Er wurde allerdings bereits am nächsten Tage von der Bundespartei unter Hinweis auf deren Beschlusslage, es könne keine Zusammenarbeit mit der LINKEN geben, „zurückgepfiffen“. Es folgten Gespräche, bei denen die bisherigen Regierungsparteien sowohl mit der CDU als auch mit der FDP über eine projektbezogene Zusammenarbeit verhandelten; diese Gespräche schienen durchaus erfolgreich verlaufen zu sein. Auf dieser Basis erarbeiteten die bisherigen Regierungsparteien einen Koalitionsvertrag. Für den 5. Februar 2020 war im thüringischen Landtag die Wahl des Ministerpräsidenten vorgesehen. Für die bisherigen Regierungsparteien kandidierte Bodo Ramelow, seitens der AfD wurde der parteilose Kandidat Christoph Kindervater ins Rennen geschickt. Da keine denkbare Parteienkonstellation die absolute Mehrheit im Landtag erreichen konnte, war von vornherein klar, dass eine Entscheidung erst im dritten Wahlgang fallen konnte, in dem die einfache Mehrheit für die Wahl des Ministerpräsidenten reichte. Für diesen dritten Wahlgang hatte die FDP, kleinste Fraktion im Landtag, bereits im Vorfeld die Kandidatur ihres Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl, Thomas Kemmerich, angekündigt.
Wie erwartet konnte keiner der beiden in den ersten beiden Wahlgängen angetretenen Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erringen. Dann der dritte Wahlgang: Es war erwartet worden, dass Bodo Ramelow mit den 42 Stimmen seiner bisherigen Koalitionsparteien zum Ministerpräsidenten gewählt werden würde, zumal er im zweiten Wahlgang zwei Stimmen mehr erhalten hatte. Doch es kam anders: Bodo Ramelow erhielt auch in diesem Wahlgang 44 Stimmen. Allerdings erhielt der AfD-Kandidat, der in den beiden vorangegangenen Wahlgängen jeweils alle Stimmen dieser Fraktion erhalten hatte, in diesem Wahlgang keine einzige Stimme, der FDP-Kandidat dagegen 45 Stimmen. Dieses Ergebnis war offensichtlich nur möglich, weil er alle Stimmen aus der AfD-Fraktion erhielt. Obwohl er zuvor angekündigt hatte, sich nicht mit den Stimmen der AfD wählen lassen zu wollen, nahm er diese Wahl zum Ministerpräsidenten an.
Diesen Vorgang kann man nur als beispiellos bezeichnen. Selbst wenn Thomas Kemmerich – wie er glauben machen möchte – mit dieser Wahl nicht gerechnet hatte, muss er sich die Frage stellen lassen, weshalb er diese Wahl überhaupt annahm. Dies insbesondere nach seiner Ankündigung, sich nicht mit den Stimmen der AfD wählen zu lassen. Selbst aus der FDP gab es kritische Stimmen; der Bundesvorsitzende, Christian Lindner, betonte in einem kurzen Statement gegen 16.15 Uhr an diesem Tag, die FDP in Thüringen handle in eigener Verantwortung. Solange er Bundesvorsitzender dieser Partei sei, könne es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Auch der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, Markus Söder, bezeichnete den Vorgang als einen „schwarzen Tag für die Demokratie“. Der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, sprach von einem „schwarzen Tag für Thüringen“. Allgemein wird das Verfahren kritisiert, dass jemand sich zur Wahl zum Ministerpräsidenten stellt, der bis wenige Tage vor dem dritten Wahlgang für dieses Amt in keiner Weise mit ihm in Verbindung gebracht worden war. Zwar betonte Thomas Kemmerich sowohl in einer kurzen Rede vor dem thüringischen Landtag als auch wenig später in einer Pressekonferenz, es werde keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Er hat aber nicht deutlich machen können, wie er eine stabilere Mehrheit als sie Bodo Ramelow nach Absprachen mit CDU und FDP zur Verfügung gestanden hätte, zustande bringen will.
Meine Meinung:
Die Behauptungen bzw. Verdächtigungen, es handle sich bei der überraschenden Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten um eine Absprache zwischen AfD, CDU und FDP, halte ich persönlich für nicht stichhaltig. Dennoch handelt es sich um einen Tabubruch allerersten Ranges. Gerade die thüringische AfD mit ihrem Vorsitzenden Björn Höcke muss als eine rechts außen stehende Partei verstanden werden, die sich zwar selbst der „bürgerlichen Mitte“ zurechnet, andererseits jedoch in Gestalt des von ihm begründeten „Flügels“ vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wenn ein Politiker, der sich als Mitglied der FDP als „liberal“ begreifen muss, von Mitgliedern einer solchen Partei Stimmen bei der Wahl für ein politisches Amt erhält, die erst seine Wahl in dieses Amt ermöglichen, dann kann und darf es für ihn darauf nur eine Reaktion geben; diese Wahl nicht anzunehmen. Das gilt umso mehr, wenn er vor dem Wahlgang für diesen Fall ausgeschlossen hat, die Wahl anzunehmen. Wenn Thomas Kemmerich darauf hinweist, dass es sich um eine geheime Wahl gehandelt habe (und damit darauf hinweisen möchte, er wisse ja gar nicht, ob er seine Wahl den AfD-Stimmen verdanke), so kann ich dies nur als Gipfel der Scheinheiligkeit bezeichnen: die gesamte, eingangs dieses Artikels beschriebene Situation lässt gar keinen anderen Schluss zu. Was er sich dabei gedacht hat, wird möglicherweise für immer sein Geheinmnis bleiben; Tatsache ist, dass er mit seinem Verhalten am heutigen Tag dem Land Thüringen, Deutschland, aber auch seiner eigenen Partei mindestens erheblichen, wenn nicht schweren Schaden zugefügt hat. Die FDP wird sich daran messen lassen müssen, ob sie die von ihrem Vorsitzenden, Christian Lindner, vorgegebene Linie auch in Thüringen durchhalten kann, es könne keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Die CDU muss sich fragen lassen, ob ihre kategorische Ablehnung einer auch nur punktuellen Zusammenarbeit mit der LINKEN diesen nun bezahlten Preis wert ist, zumal Bodo Ramelow ein in der Bevölkerung sehr beliebter Ministerpräsident war. Dieselbe Frage muss sich auch die FDP stellen lassen.
Aufgrund von Informationen, die mir erst nach dem Hochladen dieses Artikels am 05.02.2020, 17.46 Uhr, bekanntgeworden sind, drei Nachträge:
Nachtrag 1: Die CDU-Vorsitzende, Annegret Kamp-Karrenbauer, erklärte im Europäischen Parlament, die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag habe entgegen der Empfehlung und ausdrücklichen Bitte der Bundes-CDU gehandelt. Daran muss sich jedoch die Frage anschließen, was denn diese Empfehlung beinhaltete; es muss immerhin daran erinnert werden, dass es die Bundes-CDU war, die den Thüringer CDU-Vorsitzenden Mike Mohring unmittelbar nach der Wahl daran erinnerte, es dürfe keine Zusammenarbeit mit der LINKEN geben, nachdem er darüber „im Sinne Thüringens“ nachgedacht hatte. Ebenso muss die vorstehend wiedergegebene Haltung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner hinterfragt werden, nachdem der zum Ministerpräsidenten gewählte Thomas Kemmerich am Abend des 5. Februar 2020 verlauten ließ, er habe „in Abstimmung mit der Parteiführung“ gehandelt.
Nachtrag 2: Wie am Abend des 5. Februar 2020 auf Fernsehbildern zu sehen war, hatte die FDP im Thüringer Wahlkampf für ihren Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich offenbar mit dem Slogan geworben: „Die einzige Glatze, die Geschichte gelernt hat.“ Ob dies den Tatsachen entspricht, muss anscheinend ernsthaft bezweifelt werden.
Nachtrag 3: Bodo Ramelow, der gestern abgewählte Ministerpräsident Thüringens, hat als Reaktion auf die Vorgänge auf Twitter ein Zitat von Adolf Hitler vom 02.02.(!)1930 gepostet: „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. [...] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.“, und darunter zwei Fotos platziert. Das erste zeigt den Händedruck zwischen Reichspräsident Paul von Hindenburg und dem von ihm soeben zum Reichskanzler Adolf Hitler, das zweite den zwischen Björn Höcke und dem soeben mit den Stimmen seiner Fraktion zum Ministerpräsidenten gewählten Thomas Kemmerich. Obwohl ich zugeben muss, dass zu einem solchen Vorgehen Mut gehört und es sicherlich nicht unumstritten sein wird, möchte ich diesen Vorgang hier vermelden, verbunden mit dem Hinweis, dass dieses Zitat durchaus geschichtsträchtig sein dürfte und seine Anbringung an dieser Stelle durchaus angebracht erscheint.